Vor zehn Jahren erschien die deutsche Ausgabe dieses modernen Klassikers in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser zum ersten Mal im Programm des Steidl Verlags. Gerade ist der Text unter seinem Originaltitel "Foster" in Großbritannien in einer von der Autorin leicht überarbeiteten Fassung neu erschienen und auch die deutsche Übersetzung wurde entsprechend angepasst.
Keegan lässt ein kleines Mädchen von dem Sommer erzählen, in dem ihr Vater sie zum kinderlosen Ehepaar Kinsella bringt, die sie für mehrere Wochen in Obhut nehmen, weil ihre Mutter ein weiteres Baby erwartet und es zu Hause nicht für alle hungrigen Mäuler reicht. Der vorsichtige Umgang miteinander und die kargen Dialoge im Hause Kinsella bringt Claire Keegan so meisterhaft aufs Papier, dass man schon nach wenigen Zeilen von der besonderen Atmoshäre dieses Textes gefangen ist.
Gerade wurde die Geschichte in Irland unter dem Titel "The Quiet Girl" verfilmt und für einen Oscar nominiert.
Claire Keegan, Das dritte Licht
Steidl, 978-3-96999-199-2 , 20,00 €
Tilda hat gerade mit dem Studium begonnen und wie so viele ihrer ehemaligen Klassenkameraden würde sie gerne nach Berlin oder noch weiter weg ziehen, alles hinter sich lassen und ganz woanders durchstarten. Aber sie kann auf keinen Fall ihre kleine Schwester Ida alleine lassen. Zusammen mit ihrer alkoholkranken Mutter wohnen die drei "im traurigsten Haus der Fröhlichstraße". Zum Überleben hat Tilda ihren Teilzeitjob an der Supermarktkasse und die einzige Fluchtmöglichkeit aus dieser Enge sind ihre Stunden in der Schwimmhalle, wo sie eisern ihr Trainingsprogramm von 22 Bahnen einhält. Und dann ist da noch Viktor, der wie sie immer 22 Bahnen schwimmt und der vielleicht mehr sein könnte als nur ein Trainingspartner ...
Ein herzerwärmendes und gleichzeitig aufrüttelndes Roman-Debüt.
Caroline Wahl, 22 Bahnen
DuMont, 978-3-8321-6803-2, 22 €
Aktuell ist es gelungen, ein internationales Abkommen darüber zu schließen, dass 30% der Weltmeere unter Schutz gestellt werden. Das ist ein längst überfälliger Schritt zur Erhaltung eines der wichtigsten Ökosysteme unseres Planeten.
Quallen sind in allen Ozeanen durchaus zahlreich und sie gehören vermutlich nicht zu den absoluten Lieblingstieren der meisten Badeurlauber. Allerdings ist ihre Vielfalt wesentlich größer als die paar kleinen Exemplare, die uns am Strand begegnen. Davon und von vielen spektakulären Besonderheiten dieser auch "Medusen" genannten Spezies erzählt das neue Buch von Autor Michael Stavaric und Illustratorin Michèle Ganser. Nach ihrem Erfolgstitel "Faszination Krake" der zweite und ausgesprochen gelungene Streich des Duos.
Eine bibliophile Schönheit für Leser*innen jeden Alters.
Ganser/Stavaric, Faszination Qualle
Leykam, 978-3-7011-8243-5, 26 €
In diesem Jahr wäre Brendan Behan einhundert geworden. Allerdings ist er bereits 1964 verstorben und hat dennoch einen epochalen Eindruck in der irischen Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts hinterlassen.
Nun liegen in dieser schönen Salto-Ausgabe seine sämtlichen Erzählungen in deutscher Sprache vor. Es sind nur neun Geschichten, aber jede einzelne lohnt sich, wenn man einen Eindruck vom irischen Leben der viel beschworenen Arbeiterklasse erhalten möchte.
Die hervorragenden Übersetzungen hat Hans-Christian Oeser angefertigt, der auch ein kurzes und informatives Nachwort liefert, aus dem dieses Zitat stammt: "Für Brendan Behan (1923-1964), den notorischen Sauf- und Raufbold mit der empfindsamen Seele, ist >Erzähler< kein hinreichender Begriff. Er war ein begnadeter Raconteur, mündlich wie schriftlich, in seinem Leben wie in seinem Werk."
Brendan Behan, Frau ohne Rang und Namen
Wagenbach, 978-3-8031-1376-4, 22,00 €
Kristof Kryszinski ist sowohl eingeborener wie überzeugter Ruhrpott-Bewohner. Mülheim an der Ruhr ist sein angestammtes Biotop. Ausflüge hat er während seiner bisher zwölf Fälle als Privatermittler in alle möglichen Winkel des Ruhrgebiets unternommen, es hat ihn auch schon ins Ausland verschlagen, z.B. an die spanische oder portugiesische Küste.
Nun aber, für seinen dreizehnten Fall, hat Autor Jörg Juretzka den kantigen Helden mitten in die Sahara versetzt. Nach Süd-Algerien hat sich Kryszinski mit seiner treuen Begleiterin Hündin Bella zurückgezogen. Seinen altersschwachen Toyota Corolla hat er gegen einen hier wesentlich dienlicheren allradgetriebenen und schier unkaputtbaren ausgemusterten Militärlaster eingetauscht. Und jetzt verdingt sich der Ruhrpott-Marlowe als Ein-Mann-Suchtrupp für verschollene Abenteuertouristen. Wovon es erstaunlich viele gibt. Allerdings findet Kryszinski selten Überlebende, vielmehr tappt er unvermittelt in ein Wespennest aus paramilitärischen und mafiösen Machenschaften.
Ein großer Krimi-Lesespaß, ausgezeichnet mit dem Glauser-Preis 2022.
Jörg Juretzka
Nomade
Unionsverlag, 978-3-293-20951-0, TB 14,00 €
Kein buchhändlerisches Jahr vergeht ohne die obligatorische Auswahl an Leuchtturm-Kalendern. Und verkauft werden diese nicht etwa nur in Küstenstädten. Die Faszination für diese ebenso markanten wie etwas aus der Zeit gefallenen Bauwerke ist ungebrochen.
Der spanische Grafiker und Autor José Luis González Macías lebt nicht in Meeresnähe und hat auch sonst keine nautischen Wurzeln. Vielmehr entdeckte er während einer Recherche zu einer Plattencover-Illustration die Schönheit der vielen über den ganzen Globus verstreuten Leuchttürme. Vor allem jener, die so weit weg aller üblichen touristischen Routen zu finden sind, dass es vermutlich keinen Menschen gibt, der sie alle gesehen oder gar besucht hat. Wie sein literarisches Vorbild Jules Verne, der seinen Roman "Der Leuchtturm am Ende der Welt" schrieb, ohne das titelgebende Objekt in Patagonien jemals besucht zu haben, machte sich Macías ans Werk und heraus kam eines der wohl international schönsten Leuchtturm-Bücher, die man aktuell bekommen kann. Ein bibliophiles Juwel.
J.L. González Macías, Kleiner Atlas der Leuchttürme am Ende der Welt
Mare, 978-3-86648-693-5, Halbleinen-Band 36,00 €
fatto a mano - handgemacht
Das ist der Titel und auch das Motto dieses ausgesprochen sorgfältig zusammengestellten und schön gestalteten Buches. Der Star ist Herbert Grönemeyer und das Covermotiv entspricht dem seiner neuen Platte. Das hört sich nach Cross-Marketing an, ist es aber nur oberflächlich betrachtet. Denn hier handelt es sich um das Kochbuch der italienischen Köchin Lorena Autuori, die Grönemeyer und seinen Produzenten Alex Silva bei ihrer wochenlangen Arbeit am neuen Album auf einem malerischen Hof in Umbrien bekocht hat. Die Begeisterung ihrer beiden Gäste führte zum Buchprojekt und als besonderes Glück entpuppt sich für uns Leser die Entscheidung, Herbert Grönemeyers Tochter Marie die Gestaltung und das Layout des Buches anzuvertrauen. Sie hat tolle Arbeit geleistet und dieses Buch zu einem bibliophilen kulinarischen Hightlight mit Farbschnitt, doppeltem Lesebändchen und Titelstanzung gemacht.
Rundum ein Vergnügen!
Autuori/Grönemeyer/Silva, fatto a mano
Lorena Autuoris italienische Küche
AT Verlag, 978-3-03902-210-6 , 32,00 €
Ein Buch wie eine Naturgewalt.
Das ganze Leben des Anton Rosser lässt Tommie Goerz hier auf 230 Seiten in genau 100 Kapiteln vor uns ablaufen.
Ein Mensch, der 1897 geboren wird, zeitlebens mit der Welt und mit sich selbst ringt, in zwei Weltkriegen kämpft und sich nicht geschlagen gibt, bis er 1968 allein auf seinem Hof im Tal stirbt.
Eine düstere Geschichte, die phänomenal erzählt ist.
Sparsame Sätze ergeben ganz großes Kino!
Tommie Goerz, Im Tal
ars vivendi, 978-3-7472-0508-2, geb. 22 €
Ein herrliches Buch über den Umgang mit Büchern.
Hier einige der Kapitel: Belesenheit und Partnersuche / Warnung vor der Lesesucht / Bücherflüche / Anleitung zum langsamen Lesen / Warnung vor der Schundliteratur / Anleitung zum Schnelllesen / Übungen bei Augenermüdung / Wie man über ein Buch spricht, das man nicht gelesen hat / Umgang mit schlechten Buchgeschenken / Der scharfsinnigste aller Nichtleser
Außerdem erfahren wir, dass Karl May seine Fanpost oft selbst schrieb und dann wortreich beantwortete, welche berühmten unlesbaren, also schier unentzifferbaren Bücher es gibt und dass der "neueste Schrei" die "Silent Book Clubs" sind.
Ein ganz zauberhaftes Vademecum für alle Leserinnen und Leser hat Thomas Böhm hier zusammengestellt. Und darüber hinaus ist es reich bebildert und typografisch hervorragend gestaltet.
Thomas Böhm, Die Wunderkammer des Lesens
Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, 978-3-946990-76-5, 28 €