Frieda lebt in Berlin und verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie anderen ihre Stimme leiht. Sie ist Synchronsprecherin. Als ihr die Stimme wegbleibt, ist das allerdings fatal und eine Alternative muss her. Ihr Freund vermittelt ihr den Interimsjob, ein hübsches Hotel an der portugiesischen Algarve über die Wintermonate zu hüten. Weder kann Frieda Portugiesisch, noch weiß sie genau, wie mit dem ebenfalls zu hütenden Hotelhund Otto umzugehen ist. Aber immerhin ist das eine sehr passende Gelegenheit, einmal Abstand von ihrer gewohnten Umgebung zu nehmen, auch wenn diverse Bekannte meinen, das sei ja "wie in Shining". In Portugal angekommen fühlt Frieda sich zwar nicht wie Jack Nicholson im besagten Film, aber es sind doch jede Menge unerwartete Geräusche, die sie nachts wecken und irritierende handschriftliche Mitteilungen, die wie von Geisterhand geschrieben morgens auf dem Küchentresen liegen, die sie ein wenig ins Grübeln bringen. Und wo sie schon beim Grübeln ist, denkt sie auch über ihre Kindheit an einer Shell-Tankstelle in der Nähe von Hannover nach. Auch da war sie nie so ganz zu Hause, wie sie heute weiß. Überhaupt ist das so eine Frage, wo und was eigentlich zu Hause ist ...
Ein herzerfrischend schöner und immer wieder überraschender Roman!
Arezu Weitholz, Hotel Paraíso
Mare, 978-3-86648-744-4, HC 23,00 €
Als Hardcover hat dieser Roman des irischen Autors und Musikers Rónán Hession bereits eine fulminante Indie-Verlagskarriere hingelegt. Jetzt startet das Buch seine zweite Laufbahn als schön gestaltetes und ausgestattetes (gelber Farbschnitt!) Taschenbuch.
Mit den beiden Protagonisten lernt man zwei liebenswerte Menschen kennen, deren Lebenswege jenseits aller Karriereleitern zu ganz anderen als den erwartbaren Zielen führen.
Das Mondfisch-Buch unter den Haien im Bestsellerbecken.
Rónán Hession, Leonard und Paul
DuMont, 978-3-7558-0500-7, 14 €
Haare fallen aus ...
Schlechtes Wetter zieht weiter ...
Tränen trocknen ...
Für Kinder wie Erwachsene ist es eine wichtige und immer wieder beruhigende Erkenntnis, dass nichts für immer bleibt. Im Falle von Tränen und Schmerzen z.B. ist das nämlich wirklich tröstlich.
Die italienische Künstlerin Beatrice Alemagna hat mit sparsamen Mitteln ein ausgesprochen schönes und einfühlsames Bilderbuch gestaltet. Der Clou sind die eingefügten Transparentseiten, die den vorherigen und den darauf folgenden Zustand voneinander trennen und die jeweilige kleine oder größere Plage (Tränen, Regentropfen, Kopfläuse) beim Blättern auf die andere, die gewesene Seite verschieben.
Beatrice Alemagna, Dinge, die vorübergehen
Hatje Cantz, 978-3-7757-5810-9, 20,00 €
Ein neuer großer Roman von Leonardo Padura ist immer ein Ereignis.
So auch dieser neue 400 Seiten starke Krimi, in dem der Privatermittler mit Polizeierfahrung Mario Conde auf lauter "anständige Leute" trifft. Und das gleich in zwei ineinander geschachtelten Geschichten: einmal im Frühjahr 2016, als in Havanna Ausnahmezustand herrscht, weil der Staatsbesuch des US-amerikanischen Präsidenten Barack Obama ansteht und kurz darauf die Rolling Stones ein Konzert in der Stadt geben. Die Polizei hat alle Hände voll mit diesen beiden Großereignissen zu tun und braucht Condes Unterstützung bei einer offiziellen Mordermittlung, die tief ins Herz kuturpolitischer Korruption führt. Parallel recherchiert Conde den historischen Fall eines ehrgeizigen kubanischen Polizisten, der sich vor gut 100 Jahren in den Sumpf des mafiös beherrschten Rotlichtviertels Havannas begibt. Politischen Anstand oder gar Unschuld sucht Conde in beiden Fällen vergebens.
Wieder ein hochspannender literarischer Trip in die Karibik.
Leonardo Padura, Anständige Leute
Unionsverlag, 978-3-293-00621-8 , 26 €
"Ich empfand die Kunstwelt als surreales, erstickendes Konstrukt voller performativer Affirmationen – unglaublich, dass ich es sieben Jahre in New York ausgehalten hatte!"
Als Esther Ray auf der Vernissage eines ehemaligen Studienfreundes zu Gast ist, weiß sie sofort wieder, warum sie der wuseligen Kunstszene der Metropole den Rücken gekehrt hat. Sie lebt mittlerweile auf dem Land, wo sie sich ein Atelier eingerichtet hat, das sie mit ihrer Lebensgefährtin teilt. Allerdings hat diese, eine gefeierte Goldschmiedin, sie gerade schmählich sitzen lassen. Keine gute Zeit für Esther.
Da kommt der unerwartete und gut bezahlte Auftrag der Milliardärin Naomi Duncan gerade recht. Zwar ist es eine ziemlich ungewöhnliche Aufgabe, aus kistenweise biographischem Material Scrapbooks herzustellen, die das gesamte Familienleben der Duncans umfassen, aber Esther vertieft sich schnell und gründlich in diese fremde Biographie. Mehr und mehr stößt sie dabei auf Ungereimtheiten, und als sie schließlich die Auftraggeberin nicht mehr erreicht, beginnt sie mit einer regelrecht kriminalistischen Recherche.
Eine ebenso unterhaltsame wie hochspannende Lektüre.
Calla Henkel, Ein letztes Geschenk
Kein&Aber, 978-3-0369-5043-3, TB 25,00 €
Ein neuer SALTO. Und eine Entdeckung aus Flandern.
Eric de Kuyper hat eine wunderbare Erinnerung an die vielen Sommer seiner Kindheit an der Nordsee geschrieben und gleichzeitig eine Hommage an die Stadt Ostende. Es waren die Jahre nach dem Krieg, in denen die großen Ferien zusammen mit vielen Verwandten und anderen Kindern regelmäßig in einem großen Ferienhaus dort verbracht wurden. Nicht nur Sonne, Strand und Wellenbaden machten diese Wochen so schön und einzigartig, vielmehr war es das temporäre Aussetzen fast aller Regeln, die ansonsten den häuslichen Alltag für Erwachsene wie Kinder bestimmten. Große Freiheit. Und dann beschreibt de Kuyper auch die andere Seite des fröhlichen Ferienortes, wenn nach der Saison Ruhe einkehrt.
Übersetzt von Gerd Busse.
Eric de Kuyper, An der See
Wagenbach, 978-3-8031-1382-5 , 22,00 €
"Der irr Ele ist ein Mythos. Wie der Marlboro Mann."
Das "Kippchen" ist der Treffpunkt für Menschen und Geschichten im Stadtteil Gorbach. Geschichten vom gelebten, vom erlittenen und vom gescheiterten Leben. Mit dem Bierglas in der Hand erzählt von Stammgästen und sporadischen Besuchern. So auch die vom "irren Ele", der früher in seinem Camaro lässig die Blicke auf sich zog und jetzt im Rollstuhl sitzt und nicht mehr in den Spiegel sehen will.
Hank Zerbolesch erzählt in seinem Debütroman eindrucksvoll vom Leben derer, die nicht die Welt aus den Angeln heben und deren Heldentaten nicht in der Zeitung stehen. Die aber jede Menge vom Leben zu berichten haben.
Hank Zerbolesch, Gorbach
Steidl, 978-3-96999-324-8, 22 €
"We learned more from a three-minute record, baby, than we ever learned in school".
Das ist von Bruce Springsteen, zitiert von Tankred Lerch.
"Du darfst alles beim Schreiben, nur nicht langweilen" lautet der Untertitel seines Ratgebers für alle, die gut, gerne und professionell schreiben möchten. Ein Motto, das der Autor selbst in diesem Buch von der ersten bis zur letzten Seite beherzigt. Dieser Schreib-Ratgeber ist nie langweilig oder kompliziert zu lesen, berichtet viel aus der Profiwerstatt (Lerch schreibt u.a. erfolgreich für viele Fernsehformate) und hat neben guten Tipps auch Humor. Es geht um die unterschiedlichen Formate des Schreibens, von der E-Mail über eine Rede bis zu Drehbüchern und Romanen. Und es geht ganz grundsätzlich darum, beim Schreiben und Erzählen Bilder zu erzeugen und zu realisieren, dass man aus jeder tatsächlich passierten Geschichte erzählerisch eine noch viel größere machen kann.
Tankred Lerch, Es muss wie ein Unfall aussehen
Ratgeber
Becker Joest Volk, 978-3-95453-292-6, Klappenbroschur 24 €
Feuchtenbergerowa, so der Autorinnenname, den sich Anke Feuchtenberger gibt, legt ein neues Opus Magnum vor.
"Ein deutsches Tier im deutschen Wald" lautet der Untertiel dieses grafischen Romans. Er erzählt von Kerstin, die ihre Kindheit im Dorf Pritschitanow verbringt. Es spielen mit: die Großmutter, die Freundin Effi, der Hund, die Schnecken, die Gänse, Onkel Mettel und jede Menge Träume und Albträume. Das ist eine komplett wahre und zugleich komplett erfundene Geschichte, die traumhaft assoziiert und auf der nächsten Seite albtraumhaft verstört.
Anke Feuchtenberger füllt weiße Seiten mit Graphit und radiert dann weiße Stellen heraus. Manchmal bleibt aber auch viel Schwarz stehen und einige ihrer besten Tableaus erinnern an Alfred Kubins frühe Zeichnungen und an manches aus der vorletzten Jahrhundertwende.
Auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis 2024 und ein Muss für alle Fans der Graphic Novel!
Anke Feuchtenberger
Genossin Kuckuck
Reprodukt, 978-3-95640-346-0, HC 44,00 €