Wir lernen zwei historische Figuren aus dem Paris des 18. Jahrhunderts kennen: Madeleine Basseporte und Marie Biheron. Zwei Künstlerinnen, zwei Liebende im Schatten der Aristokratie und der Revolution. Basseporte bringt es zu höchster Könnerschaft als Pflanzenzeichnerin und Biheron bildet so kunstvoll wie kein anderer die menschlichen Körperteile aus Wachs nach.
"Frauen, vermute ich, werden deshalb in allem so gut, weil man es ihnen so schwer macht.", schreibt Madeleine an den von ihr hochverehrten Naturforscher Linné.
Zwei eindrucksvolle Frauen in Zeiten der Aufklärung und des gewaltsamen gesellschaftlichen Umbruchs. Und vor allem: ein neuer Roman von Christine Wunnicke!
Christine Wunnicke, Wachs
Berenberg, 978-3-911327-03-9 , 24 €
Philipp, 17-jähriger Gymnasiast, lebt bei seinem alleinerziehenden Vater Lothar. Der ist Chefarzt in der Chirurgie, stemmt die Welt mühelos finanziell, weiß aber nicht, wie und was er mit seinem Sohn reden soll und versucht gleichzeitig Stella, seine junge Lebensgefährtin bei Laune zu halten. All das klappt nur so semi. Philipp redet allgemein nicht viel, und wenn, dann lieber mit seinem Kumpel Lorenz. Ihr Rückzugsgebiet ist der örtliche Friedhof, wo die beiden ungestört Pizza essen und kiffen können. Das und die Schule sind auch irgendwie nur semi. Und dann ist da noch Astrid, Philipps Mutter, die schon lange weg ist, aber per SMS immer wieder durch Philipps Leben geistert, wobei sie jedes Mal mehr Chaos als Trost verbreitet. Alle zusammen kommen sie irgendwie zurecht. Schließlich steht Philipps achtzehnter Geburtstag an und auch das läuft dann irgendwie aus dem Ruder.
Annika Büsing beherrscht virtuos sämtliche sprachlichen Register für Atmosphären und Gefühlslagen. Grandiose Lektüre!
Annika Büsing, Wir kommen zurecht
Steidl, 978-3-96999-468-9, 24 €
Juan Pablo Villalobos, mexikanischer Autor mit Wohnsitz in Barcelona schreibt über einen Tag im Leben von Juan Pablo, eines mit Familie in Barcelona lebenden Schriftstellers aus Mexiko. Es beginnt am Frühstückstisch und endet am gleichen Tag abends am gleichen Tisch mit dem gemeinsamen Abendessen der Familie. Dazwischen erlebt Juan Pablo einen ziemlich kafkaesken Tag mit Besuchen in einer Klinik für Gastroenterologie, zwei Friseursalons, einer Buchhandlung und seinem mexikanischen Lieblingsrestaurant. Dabei redet er u.a. mit der Brasilianerin (seiner Ehefrau), der Bretonin (seiner neuen Friseurin), dem Ecuadorianer (einem eifrigen Schreibschüler) und der Uruguayerin (der Verlobten des Ecuadorianers).
Eine höchst welthaltige Gechichte mit höchst vergnüglichen Dialogen und einem höchst rätselhafen Alibi. Höchst unterhalsam!
Juan Pablo Villalobos, Das Alibi
Deutsch von Carsten Regling
Wagenbach, 978-3-8031-1385-6 , TB 20,00 €
Kyoko stammt aus Japan und ist als Studentin nach San Francisco gekommen. Dort hat sie ihren amerikanischen Ehemann Levi kennen und lieben gelernt. Als der gemeinsame Sohn Alex nur ein paar Jahre alt ist, stirbt Levi bei einem Unfall und Kyoko fühlt sich nicht nur alleingelassen sondern auch sofort wie ein Alien als alleinerziehende Mutter in den USA. Die quirlige jüdische Schwiegermutter nimmt sich ihrer zwar hingebungsvoll in ihrem Haus an der Ostküste an, aber so vieles an ihrer Denkungsart und ihrem Handeln sind für Kyoko irritierend und lassen sie mit dem Sohn bald wieder alleine nach Kalifornien zurückkehren. Hin und hergerissen zwischen Sehnsucht nach ihrem Geburtsland, dem Wunsch zur Assimilation und ihren permanenten, manchmal auch übererfüllten Mutterpflichten findet Kyoko ihren Weg, auf dem es zu jeder Menge, oft urkomischen Begegnungen und Verwicklungen kommt.
Dieser Debütroman von Yukiko Tominaga hält wunderbar die Balance zwischen Trauer und Humor. Eine Entdeckung.
Yukiko Tominaga, Vermissen auf Japanisch
Mare, 978-3-86648-716-1, HC 24,00 €
Die Geschichte spielt an einem einzigen Tag, dem 3. November 1957, an dem es in Delaware ungewöhnlich warm war. Die Welt hält den Atem an, als die russische Sonde Sputnik 2 mit Hündin Laika an Bord in den Orbit geht. Familie Beckett - Vater, Mutter, zwei kleine Söhne - bricht derweil zum Sonntagsgottesdienst auf. Kathleen verspürt allerdings eine leichte Übelkeit und beschließt zu Hause zu bleiben. Als ihr Gatte samt Söhnen zurückkommt, findet er seine Frau im noch nie genutzten Swimmingpool der Wohnanlage vor. Dort bleibt sie ohne plausible Erklärung insgesamt acht Stunden lang sitzen. Wir erfahren derweil, was in ihrem und was in seinem Kopf vor sich geht. All die kleinen und größeren Versäumnisse und Verfehlungen ihrer jeweiligen Leben und das durchaus wacklige Gerüst, auf dem ihre Ehe gründet werden Stück für Stück offengelegt.
Mit leisen Tönen und auf nur 160 Seiten bringt Jessica Anthony diesen American Family-Dream gehörig ins Wanken.
Jessica Anthony, Es geht mir gut
Übersetzt von Gabriele Werbeck und Andrea Stumpf
Kein & Aber, 978-3-0369-5055-6, TB 23,00 €
Vor acht Jahrzehnten, im März 1945 marschierten die US-amerikanischen Streitkräfte in Köln ein. Sie befreiten die Stadt von den Nationalsozialisten, allerdings zunächst einmal nur die linke Rheinseite. Auf der von den Kölnern "schääl Sick" genannten rechten Rheinseite hielten sich die Wehrmacht und die SS noch etliche Wochen. und die Armeen beschossen sich von beiden Ufern über den Fluss.
In genau dieser historischen Situation hat Cay Rademacher seinen neuen historischen Kriminalroman "Nacht der Ruinen" angesiedelt. Er beschreibt die Geschehnisse spannend und in allen Details bestens recherchiert. Etliche historische Personen haben einen Auftritt, wie z.B. Kölns ehemaliger Bürgermeister Konrad Adenauer, George Orwell, der als Kriegsberichterstatter in der zerstörten Stadt war und Irmgard Keun, die im Satdtteil Braunsfeld den Krieg überlebt hatte.
Historische Spannung pur.
Cay Rademacher, Nacht der Ruinen
DuMont, 978-3-7558-0034-7, 24 €
Ein tolles Projekt hat die Comickünstlerin Ulli Lust vor einigen Jahren begonnen. Sie erzählt zeichnerisch die Geschichte der Menschheit, und zwar mit Fokus auf der Geschichte der Frauen. Jetzt ist der erste Band dieser auf zwei Bände angelegten Graphic Novel bei Reprodukt erschienen. "Die Frau als Mensch" ist schon mal ein ebenso ernster wie augenzwinkernd provozierender Titel. Damit ist die Autorin aber auch schon mitten in ihrem Thema. Selbstverständlich ist und war es in der Geschichte der Menschheit durchaus nicht, dass Frauen als ebenbürtige Menschen behandelt wurden. Der mit Abstand größte Teil der anthropologischen Forschung wurde bis ins zwanzigste Jahrhundert hinein z.B. von Männern verfasst. Und entsprechend einseitig ist dann auch das Frauenbild der gesamten Frühgeschichte.
Ulli Lust schweift von der Frühzeit in die Jetztzeit und zurück und erzählt hier mit ebenso viel Fachwissen wie mit schneidendem Humor.
Ulli Lust, Die Frau als Mensch. Am Anfang der Geschichte
Reprodukt, 978-3-95640-445-0 , HC 29 €
Kaum eine Stadt auf diesem Globus hat eine so bewegte, vielfältige, widersprüchliche, gewaltsame und zugleich heilige Geschichte wie Jerusalem, die sich über vier Jahrtausende erstreckt. All dies erzählen Vincent Lemire (Text) und Christophe Gaultier (Zeichnung) in ihrem über 350 Seiten starken Comicalbum.
Die Erzählstimme ist genial gewählt, wir bekommen die gesamte, höchst wechselhafte Geschichte der Stadt von einem wahrlich imposanten und im wahren Sinne objektiven Chronisten dargeboten, einem vor 4000 Jahren gepflanzten Olivenbaum namens Zaytun, der von seinem Standpunkt auf einem Hügel vor der Stadt deren Geschicke über die Jahrhunderte und Jahrtausende beobachtet.
In eindrucksvollen Episoden und Bildern bekommen wir gleichzeitig Stadt- und Menschheitsgeschichte sehr lebendig und anschaulich geboten. Vor allem aber ist diese Geschichte durchweg politisch und weltanschaulich neutral erzählt.
Lemire/Gaultier, Jerusalem
Geschichte einer Stadt
Jacoby & Stuart, 978-3-96428-240-8, 32,00 €
Haare fallen aus ...
Schlechtes Wetter zieht weiter ...
Tränen trocknen ...
Für Kinder wie Erwachsene ist es eine wichtige und immer wieder beruhigende Erkenntnis, dass nichts für immer bleibt. Im Falle von Tränen und Schmerzen z.B. ist das nämlich wirklich tröstlich.
Die italienische Künstlerin Beatrice Alemagna hat mit sparsamen Mitteln ein ausgesprochen schönes und einfühlsames Bilderbuch gestaltet. Der Clou sind die eingefügten Transparentseiten, die den vorherigen und den darauf folgenden Zustand voneinander trennen und die jeweilige kleine oder größere Plage (Tränen, Regentropfen, Kopfläuse) beim Blättern auf die andere, die gewesene Seite verschieben.
Beatrice Alemagna, Dinge, die vorübergehen
Hatje Cantz, 978-3-7757-5810-9, 20,00 €