Rebecca Cohen wird kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts in Konstantinopel in eine wohlhabende sephardische Familie geboren. Sie besucht mit ihrer besten Freundin eine von katholischen Nonnen geleitete Schule. Um 1907 eine privilegierte Ausbildung. Und die Metropole lässt das harmonische Leben aller Religionen neben- und miteinander zu. Das ändert sich in den 20er Jahren, die Toleranz nimmt ab und der Antisemitismus zu. Die Familie emigriert nach Barcelona, in ein Land, das vor 400 Jahren ihre Vorfahren vertrieben hat. Nach einer bescheidenen Karriere als Schneiderin heiratet Rebecca und bekommt einen Sohn. Ihr Ehemann verschwindet allerdings auf einer seiner zahlreichen ominösen Geschäftsreisen. Und schließlich findet Rebecca in Übersee einen neuen Mann und beginnt wieder ein neues Leben in New York. Die sephardischen Lieder ihrer Kindheit bleiben der rote Faden und emotionale Anker in ihrem wechselvollen Leben.
Eine Hommage an die Großmutter der Autorin und ein ebenso farbenfroher wie faszinierender Roman über eine der vielen jüdischen Migrationsgeschichten des 20. Jahrhunderts.
Elisabeth Graver, Kantika
Mare, 978-3-86648-710-9, HC 25,00 €
Feuchtenbergerowa, so der Autorinnenname, den sich Anke Feuchtenberger gibt, legt ein neues Opus Magnum vor.
"Ein deutsches Tier im deutschen Wald" lautet der Untertiel dieses grafischen Romans. Er erzählt von Kerstin, die ihre Kindheit im Dorf Pritschitanow verbringt. Es spielen mit: die Großmutter, die Freundin Effi, der Hund, die Schnecken, die Gänse, Onkel Mettel und jede Menge Träume und Albträume. Das ist eine komplett wahre und zugleich komplett erfundene Geschichte, die traumhaft assoziiert und auf der nächsten Seite albtraumhaft verstört.
Anke Feuchtenberger füllt weiße Seiten mit Graphit und radiert dann weiße Stellen heraus. Manchmal bleibt aber auch viel Schwarz stehen und einige ihrer besten Tableaus erinnern an Alfred Kubins frühe Zeichnungen und an manches aus der vorletzten Jahrhundertwende.
Auf der Shortlist für den Leipziger Buchpreis 2024 und ein Muss für alle Fans der Graphic Novel!
Anke Feuchtenberger
Genossin Kuckuck
Reprodukt, 978-3-95640-346-0, HC 44,00 €
Masi Morris ermittelt in Tel Aviv.
Nicht ganz freiwillig ist sie selbständige Privatermittlerin geworden, nachdem sie bei der Polizei wegen "unangemessenen Verhaltens" gefeuert wurde.
Mit mangelnden ermittlerischen Fähigkeiten hatte die Kündigung ganz und gar nichts zu tun, vielmehr hat Masi immer mal wieder Schwierigkeiten, sich an Regeln zu halten.
Und ihre daraus resultierenden unorthodoxen Methoden, bei denen sie (aktuell tatsächlich eher aus Geldmangel) auch gerne mal ihre Geschwister unentgeltlich für Recherchen einspannt, kommen ihr beim aktuellen Auftrag zugute. Sie soll Jasmin Schechter finden, die entführte Ehefrau ihres alten Schulfreundes aus einer der reichsten und einflussreichsten Familien des Landes. An herkömmliche Spielregeln darf sie sich dabei ohnehin nicht halten.
Ein rasantes Krimi-Debüt, hervorragend übersetzt von Ruth Achlama.
Daria Shualy, Lockvogel
Kein&Aber, 978-3-0369-5030-3, TB 24,00 €
Erst ab Ende September 2024 gibt es die Ausstellung der Werke Yoko Onos im Düsseldorfer K20 zu sehen. Aktuell muss man dafür (bis 1.4.24) nach London in die Tate Modern reisen.
Jetzt schon gibt es den deutschsprachigen Katalog zu dieser umfangreichsten Ausstellung der Konzeptkunst der mittlerweile über neunzigjährigen Yoko Ono zu kaufen. Es ist ein reich bebildertes und mit höchst informativen Texten internationaler Autoren versehenes Buch. Liebevoll gestaltet und bibliophil ausgestattet ist es ein regelrechtes Muss für alle Fans der Fluxus-, Konzept- und Performancekunst. Und selbstverständlich nimmt auch das Kapitel "John & Yoko" gebührenden Platz ein.
Yoko Ono, Music of the Mind
Hatje Cantz, 978-3-7757-5716-4, 48,00 €
Ein neuer SALTO. Und eine Entdeckung aus Flandern.
Eric de Kuyper hat eine wunderbare Erinnerung an die vielen Sommer seiner Kindheit an der Nordsee geschrieben und gleichzeitig eine Hommage an die Stadt Ostende. Es waren die Jahre nach dem Krieg, in denen die großen Ferien zusammen mit vielen Verwandten und anderen Kindern regelmäßig in einem großen Ferienhaus dort verbracht wurden. Nicht nur Sonne, Strand und Wellenbaden machten diese Wochen so schön und einzigartig, vielmehr war es das temporäre Aussetzen fast aller Regeln, die ansonsten den häuslichen Alltag für Erwachsene wie Kinder bestimmten. Große Freiheit. Und dann beschreibt de Kuyper auch die andere Seite des fröhlichen Ferienortes, wenn nach der Saison Ruhe einkehrt.
Übersetzt von Gerd Busse.
Eric de Kuyper, An der See
Wagenbach, 978-3-8031-1382-5 , 22,00 €
"Der irr Ele ist ein Mythos. Wie der Marlboro Mann."
Das "Kippchen" ist der Treffpunkt für Menschen und Geschichten im Stadtteil Gorbach. Geschichten vom gelebten, vom erlittenen und vom gescheiterten Leben. Mit dem Bierglas in der Hand erzählt von Stammgästen und sporadischen Besuchern. So auch die vom "irren Ele", der früher in seinem Camaro lässig die Blicke auf sich zog und jetzt im Rollstuhl sitzt und nicht mehr in den Spiegel sehen will.
Hank Zerbolesch erzählt in seinem Debütroman eindrucksvoll vom Leben derer, die nicht die Welt aus den Angeln heben und deren Heldentaten nicht in der Zeitung stehen. Die aber jede Menge vom Leben zu berichten haben.
Hank Zerbolesch, Gorbach
Steidl, 978-3-96999-324-8, 22 €
Mit 81 Jahren wird Frieda von ihrem einzigen Sohn in Nimwegen ins Pflegeheim gebracht. In den vergangenen Jahren wurde sie in der eigenen Wohnung von ihrem Ehemann gepflegt, aber es geschah das für sie unvorstellbare, er starb vor ihr an einem Herzinfarkt.
Nun ist sie allein in ihrem Zimmer und ihre Gedanken schweifen unweigerlich zu den Erlebnissen, die sie so lange verdrängt hatte. In den frühen 60er Jahren lernte Frieda den älteren Otto kennen und begann mit ihm eine leidenschaftliche Liebesaffaire. Allerdings war Otto verheiratet und niemand, auch nicht ihre eigenen Eltern durften davon erfahren. Eine ungeplante Schwangerschaft führte schließlich zur Tragödie und sie musste 1963 erleben, wie sie von allen, auch der eigenen Familie im Stich gelassen wurde.
Jaap Robben ist mit diesem ausgesprochen eindrucksvollen und einfühlsam erzählten Roman in der Übersetzung von Brigit Erdmann unbedingt zu entdecken. Ein großartiger Erzähler aus den Niederlanden.
Jaap Robben, Kontur eines Lebens
DuMont, 978-3-8321-6818-6, 24 €
Der vierte Kriminalroman von S.A. Cosby darf als sein bisher bester gefeiert werden. Das bescheinigt ihm u.a. sein großer Kollege Dennis Lehane.
Titus Crown ist erster schwarzer Sheriff von Charon County, Virginia. Keine Selbstverständlichkeit in der Südstaaten-Provinz. Titus wohnt jetzt wieder mit seinem Vater unter einem Dach, und dass dieser ihm zum ersten Jahrestag eine Glückwunschkarte schreibt, rührt ihn zwar, macht ihm die Erwartungen des Vaters an seinen Sohn aber auch umso bewusster. Ein Alarm aus dem Büro schreckt Titus aus den Gedanken an sein erstes Dienstjahr: Amoklauf an der Jefferson Davis Highschool. Als Titus dort ankommt, tritt aus dem Schuleingang mit einem Gewehr in der Hand Latrell Macdonald, mit dem er zur Schule gegangen ist und der mittlerweile eine steile Drogenkarriere absolviert hat. Latrell redet ebenso wirr wie verzweifelt vor sich hin und keiner der Beschwichtigungversuche des Sheriffs erreicht ihn. Als der Bewaffnete drei Schritte auf die Polizisten zu taumelt, fallen mehrere Schüsse, die ihn sofort töten. Im Schulgebäude wird der erschossene Erdkundelehrer Mr. Spearman aufgefunden. Eine bittere Ermittlungsarbeit beginnt für Titus Crown, in deren Verlauf er auf weitaus größere Verbrechen als vermutet stößt.
S.A. Cosby, Der letzte Wolf
Deutsch von Jürgen Bürger
ars vivendi, 978-3-7472-0518-1, HC 24 €
Das Wort ist so veraltet wie der Beruf. Wikipedia klärt auf, dass in den letzten 200 Jahren "die Anstellung von Gouvernanten vorwiegend auf Familien des Großbürgertums und des Adels begrenzt" war. Die vielleicht berühmteste ihrer Art hieß Mary Poppins. Ganz anders als das einnehmende Wesen der singenden und tanzenden Kinderfrau im Musical sind die drei Gouvernanten in Anne Serres Roman allerdings eher surrealistisch-geisterhafte Gestalten. "Das Haar in schwarzen Netzen gebändigt" leben sie auf dem Anwesen der Familie Austeur, wo sie im wahren Sinne des Wortes Haus und Hof unsicher machen. Mit der Erziehung des Nachwuchses geben sich die drei Grazien weniger ab als mit der Jagd nach Männern, die absichtlich oder zufällig das Anwesen betreten. Dann verschwimmt die Grenze zwischen Grazie und Furie und die zwischen akuter Lust und latenter Gewalt.
Eine faszinierend schillernde Lektüre in hervorragender Übersetzung von Patricia Klobusiczky.
Anne Serre, Die Gouvernanten
Berenberg Verlag, 978-3-949203-67-1, 22 €